Leseprobe
Maryse Krier
Ein starkes Band
Novelle
© Verlag Kleine Schritte

Ob Nelly wirklich Schauspielerin geworden ist? All die Jahre habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, was sie wohl beruflich macht, ob sie einen Freund hat oder gar verheiratet ist. Sie war nicht einfach nur verschwunden. Von ihrem Verhalten zutiefst verletzt, hatte ich sie aus meinem Gedächtnis radiert, als hätte es sie nie gegeben.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in einer festen Beziehung lebt und vielleicht sogar Kinder hat. Irgendwie passt das nicht zu der Nelly, die ich in Erinnerung habe. Kurz vor dem Abitur war sie mit jemandem zusammen, aber das hat nur einen Monat gedauert. Ich habe damals wissen wollen, was denn zwischen ihr und Carlos schiefgelaufen sei. Sie hat mich eine Zeit lang angesehen, und in ihrem Blick lag etwas, was ich nicht deuten konnte, etwas Prüfendes, ja Misstrauisches.
»Du bist ein bisschen zu neugierig, Emma«, hat sie schließlich geantwortet.
Ich war entrüstet und habe sie angeschnauzt: »Wir sind Freundinnen, Nelly! Da ist es normal, dass ich dich das frage, finde ich jedenfalls!«
Der Ansicht sei sie nicht, erwiderte sie, und obwohl ich keine Ruhe gab und sie weiterhin löcherte, schwieg sie, was mich furchtbar wütend machte. Ich ließ sie einfach mitten auf dem Bürgersteig stehen und ging nach Hause.
Überhaupt war oft schwer zu verstehen, was in Nelly vorging. Wochenlang konnte sie guter Laune, manchmal geradezu überspannt sein, um von einem Tag auf den anderen kaum mehr ein Wort zu sagen und sich vollkommen zurückzuziehen. »Die Schnecke sitzt in ihrem Häuschen«, dachte ich, falls es wieder so weit war. Oder: »Der Fuchs hat sich in seinen Bau verkrochen.« Besonders gut gefiel mir: »Sie hat sich in die innere Emigration begeben.« Im Literaturunterricht hatte unsere Deutschlehrerin uns erklärt, was es mit diesem Begriff auf sich hat, und eines Tages sagte ich zu Nelly:
»Bist du wieder in deiner inneren Emigration?«
Nelly hat bloß die Achseln gezuckt, mich mitleidig angesehen und gemeint, ich solle nicht auf intellektuell machen, das passe nicht zu mir.
Befand sie sich in einer dieser Phasen, ging sie mir auch in der Schule aus dem Weg, wollte nicht angesprochen werden. Einmal hielt ihr Schweigen zwei Wochen an. Alle Mails und SMS, die ich ihr schickte, blieben unbeantwortet. Und wenn ich sie anrief, war der Anrufbeantworter eingeschaltet.
Nach einer gewissen Zeit meldete sie sich dann bei mir und tat, als wäre nichts geschehen. Wir stritten öfter heftig, weil sie vorgab, keine Ahnung zu haben, warum sie sich manchmal derart abkapselte. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie log. Irgendwie ahnte ich, dass unsere Freundschaft zerbrechen würde, sollte ich weiterhin auf einer Antwort bestehen.

...

Minutenlang bleibt Emma im Bett liegen. Sie weiß, sie hat im Schlaf laut geschrieen. Dann steht sie auf, streift hastig ein Kleid über. Sie hält es in diesem Zimmer nicht mehr aus. Schrank, Kommode und sogar der Sessel in der Ecke scheinen näher an sie heranzurücken. Kesseln sie ein, damit sie nicht mehr weg kann. Und obwohl sie sich einzureden versucht, dass dies eine irrsinnige Vorstellung ist – Luca nennt es ihre Hotelzimmerparanoia –, wird sie das Gefühl der Beklemmung nicht los.
Rasch zieht sie ihren Mantel an, schnappt sich ihre Tasche und verlässt fluchtartig das Hotel.
Eine Zeit lang irrt sie in den Straßen umher. In ihren Ohren surrt und summt es. Das Großstadttreiben ist sie nicht mehr gewohnt. Seit sie mit Luca zusammen ist, sind Städtereisen gestrichen. Er hasst Hektik und Lärm, ihn zieht es in die Natur. Nur dort könne er die Stille schmecken, behauptet er.
Das sei typisch für ihn, hatte Emma gesagt. Ein Feinschmecker und Genießer wie er wolle sich sogar die Stille auf der Zunge zergehen lassen.
Ziellos streift sie durch die Gegend, biegt schließlich in die Harrison Street ein und steht kurze Zeit später vor einem Pub. Mit einem Mal verspürt sie großen Hunger. Kurz entschlossen tritt sie ein und nimmt an dem einzigen Tisch, der noch frei ist, Platz. Sie bestellt sich ein Fischgericht.
Während sie auf das Essen wartet, beobachtet sie die Leute. Mit erschöpften Gesichtern hocken einige am Tresen, stumm, teilnahmslos. Die Last des Tages zeichnet sich auf ihren Mienen ab. Auf andere, die an den Nebentischen sitzen, hat die Hektik des Großstadtbetriebes abgefärbt. Sie reden pausenlos und gestenreich.
Emma schlingt rasch das Essen herunter, möchte sich nicht länger hier aufhalten als nötig. Sie zahlt und verlässt das Lokal.
Draußen schlägt ihr die Nachtluft kühl entgegen, was ihr keineswegs unangenehm ist. Es hat angefangen zu regnen. Sie öffnet ihren Schirm und beginnt, eine Melodie zu summen:
»Singin’ in the rain ... I’m singing …«

Der Regen klatscht aufs Pflaster, Pfützen bilden sich, auf denen dicke Blasen schwimmen, die sich aufblähen und nach wenigen Sekunden zerplatzen.
»Singin’ in the rain/I’m singing in the rain/What a glorious feeling/I’m happy again.« Nelly singt und tanzt im Kreis herum, dabei wedelt sie mit ihrem Schirm.
Ich lache und rufe: »Nelly, wo hast du das schon wieder her?«
»Ist ein sehr bekannter Song. ›Singin’ in the rain‹ aus dem gleichnamigen Film von 1952.«
»Nie gehört! Wieso weißt du das alles?«
»Bin ‘ne wandelnde Enzyklopädie!«, sagt sie und läuft, wie Kinder es tun, im Zickzack den Bürgersteig entlang.
»Ich bin so glücklich heute Abend!«, schreit sie in das Regengeprassel hinein und wirft den Schirm zu Boden. »So glücklich war ich schon lange nicht mehr.«
Im Licht der Straßenlaternen strahlt ihr regennasses Gesicht. Kleine Wassertropfen huschen über ihre Stirn und bahnen sich einen Weg ihre Wangen entlang. Sie macht den Mund auf, als wolle sie etwas sagen, schließt ihn wieder und sagt lachend, der Regen schmecke wunderbar.
Sie werde sich erkälten, sorge ich mich. Sie solle den Schirm aufspannen. Ihr Haar sei klatschnass.
Sie tut es, beginnt erneut zu singen, dreht sich einige Male um die eigene Achse und stößt mit einem Fußgänger zusammen, der nicht rechtzeitig an ihr vorbeigekommen ist. Sie taumelt. Der Mann fängt sie auf, sagt etwas auf Englisch, was ich nicht verstehe, und sie erwidert: »Yes, with pleasure!«
Er nimmt sie bei der Hand, und sie tanzen beide eine Weile im Kreis herum.
»That was nice«, meint Nelly, der Mann verbeugt sich vor ihr und geht weiter.
Ich stehe da, sprachlos vor Erstaunen.

 

 

Maryse Krier | Ein starkes Band | Novelle | Verlag Kleine Schritte

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